"Der erste deutsche 'Großmeister' der Musik"

Heinrich Fincks seltsame Missa de Beata Virgini

Autor/innen

  • Christiane Wiesenfeldt

DOI:

https://doi.org/10.52412/mf.2016.H1.406

Abstract

Die Anfänge der Erforschung "alter" Musik im 19. Jahrhundert prägen Missverständnissen und Fehldeutungen, die wiederum Rückschlüsse auf das Wissenschafts- wie Musikgeschichtsbild der ersten Forscher und Sammler zulassen. Als Beispiel dafür, das Konsequenzen sowohl für die Deutung einer Messgattung als auch ihres Komponisten, ihrer unikaten Quelle und nicht zuletzt für die Rolle und Bedeutung deutschsprachiger Komponisten um 1500 hatte, wird hier die Geschichte von Heinrich Fincks Entdeckung als Messkomponist am Beispiel seiner "Missa de Beata Virgine" vorgestellt. Sie gibt in ihrer dokumentarischen Substanz Anlass, über das einzelne Werk oder dessen Kontext hinaus die Frage nach historiographischen Mechanismen, ihren Ausprägungen und wirkmächtigen Definitionen zu stellen, mit denen sich die Messenforschung zur Frühen Neuzeit noch heute auseinandersetzt. Zunächst werden Otto Kades umfangreiche Forschungsarbeiten auf dem Gebiet der alten Musik insbesondere seine Beteiligung am "Projekt Ambros" (August Wilhelm Ambros' unvollendete Geschichte der Musik in vier Bänden) erörtert. Als zentrales Anliegen Kades wird dabei die Frage nach dem Beginn einer "deutschen" mehrstimmigen Musik, die er um 1500 datiert und unter anderem an den Werken Heinrich Isaacs und Fincks festmacht, thematisiert. Anschließend wird das Regensburger Manuskript mit der "Missa de Beatia Virgine" untersucht, wobei zunächst Inhalt, Komponisten und Aufbau der Quelle beschrieben werden, bevor auf Provenienz und Entstehungszusammenhang der Quelle eingegangen wird. Als Ergebnis dieser Untersuchung wird festgehalten, dass die Finck zugeschriebene Messe im Gegensatz zu den übrigen Messen des Manuskripts keine eindeutige liturgische Konnotation aufweist. Womöglich handelte es sich hier um eines der frühesten Beispiele frei paraphrasierender, dreistimmiger Messkompositionen im deutschen Sprachgebiet um 1500. Der Quellenbefund widerlegt die These, dass diese Messe sich auf der Basis des Chorals stilistisch und kulturgeographisch von ihrem Umfeld zu "emanzipieren" trachtete; sie folgt als frühe Form polyphoner Durchkomposition im deutschen Sprachraum klar franko-flämischen Vorbildern. Für Kade, der lebenslang nach dem Ursprung deutscher Musik fahndete, wäre dies sicherlich kaum befriedigend gewesen. Mit dieser Einsicht hätte freilich manche Musikgeschichte der Frühen Neuzeit anders ausgesehen.

bms online (Beatrix Obal)

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Veröffentlicht

2021-09-22